Artikel drucken Erinnyen     März 2008
 

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Von Erinnyen Zeitschrift für materialistische Ethik veröffentlicht 2005

Brauchen die Menschen Moral?

Zehn Thesen gegen

die herrschende Klassenmoral

und für die Solidarität der Lohnabhängigen

 (Einleitung)

I.  Teil:     Kritik der herrschenden Moral

 1.  These  Die kapitalistische Gesellschaft braucht Moral!

 2.  These  Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind genauso
                 unmoralisch wie die Moral der Menschen widersprüchlich ist!

 3.  These  Die herrschende Moral ist die ideelle Existenzbedingung der Herrschenden!

 4.  These  Die Erfindung der Moral sollte in der antiken
                 Gesellschaft Gewalt vermindern!

 5.  These  Es gilt der Satz: “Moralisieren ist unmoralisch”!

 6.  These  “Erst kommt das Fressen, dann die Moral” –
                 die plebejische Kritik an der bürgerlichen Moral!

 II.  Teil:    Die Moral des Widerstandes

 7.  These  Moral ist der innere Feind der Lohnabhängigen, aber
                als Solidarität zugleich auch das einzige Mittel
                gegen die Herrschaft des Kapitals! 

 8.  These  Die sozialistische Bewegung ist von Konfusionen
                über die Moral geprägt!

 9.  These  Wenn eine autonome Moral notwendig ist, 
                 dann muss sie bei Kant anknüpfen!

 10. These Die einzig vernünftige Moral ist heute eine 
                 des Widerstandes!

 Moral ist in aller Munde. Ständig wird Moral gefordert oder ihr Mangel beklagt. Keine Talkshow ohne Moralisieren. Selbst ihre Kritiker halten alle paar Jahre Vorträge über die ideologische Funktion der Moral oder beschimpfen andere als Gutmenschen. Längst gilt nicht mehr: Jugend kennt keine Tugend. Gerade unter der Masse der  Jugendlichen ist moralisches Bewerten in. Man hat es dann einfacher. Man braucht sich nicht genau um die Sache zu kümmern, wenn man sie sofort moralisch bewertet.

 Moral wird überall gefordert: Wenn der Beschäftigte nicht pünktlich am Arbeitsplatz ist, meckert ihn sein Chef an. Wenn einer faul ist, fliegt er aus dem Betrieb. Wenn jemand andere Mitarbeiter mobbt, dann mindert das die Leistung und er wird abgemahnt. Wenn durch Fahrlässigkeit ein Unglück passiert, wird es mediengerecht serviert und die Leute sagen: Wie schrecklich!

 Selbst Kriege werden mit Moral gerechtfertigt und kritisiert. Im Folgenden werde ich zehn Thesen zur Moral aufstellen und diese erläutern.

 

I. Teil       Kritik der herrschenden Moral

 1. These:   Die kapitalistische Gesellschaft braucht
                 Moral!

 Jedes Handeln, das einen anderen Menschen betrifft, jedes Handeln, das sich auf eine Gemeinschaft bezieht, jedes Handeln im arbeitsteiligen Produktionsprozess hat eine moralische Dimension. Es wird danach beurteilt, ob es anderen nützt oder schadet, erfreut oder missfällt, gut oder schlecht ist. Diese Beurteilung von Handlungen ist Moral. Und wenn ich von vorn herein eine solche Beurteilung in mein Handeln einbeziehe, dann wirken moralische Prinzipien.

 Jeder einzelne Mensch, jede Gruppe, jede Gesellschaft verfolgt eine Vielzahl von Zwecken, aus denen Handlungen folgen. Die Qualifizierung dieser Zwecke und der Handlungen, die daraus folgen, als moralisch oder unmoralisch, sagt etwas aus über die Verträglichkeit meines Handelns mit dem Handeln anderer Menschen. Insofern gibt es keine sozial bedeutenden Zwecke und Handlungen, die nicht unter der Moral stehen.

 Das Entscheidende ist nun nicht, dass ein Handeln beurteilt wird, sondern mit welchen Maßstäben, Kriterien und Prinzipien, unter welchen Bedingungen dies geschieht. Und wenn ich solche moralischen Kriterien habe, die begründbar sind, muss ich immer auch fragen, ob die Bedingungen des Handelns überhaupt die Verwirklichung vernunftbestimmter Handlungen erlauben. Vernunftbestimmt sind die Zwecke und Handlungen, die allgemein einsehbar sind und die deshalb ein friedliches Zusammenleben der Menschen ermöglichen könnten. Diese allgemeinen Überlegungen müssen auf die gegenwärtige Situation bezogen werden.

 Die kapitalistische Marktwirtschaft erscheint als eine ungeheure Warenansammlung. Die Waren stellen sich aber nicht von selbst her und tragen sich nicht von selbst zum Markt. Dazu bedarf es der Menschen, die mit Bewusstsein und freiem Willen begabt sind. Damit diese Menschen auf mehr oder weniger kreative Weise immer auf die gleiche Art funktionieren, bedürfen sie einer gewissen Festigkeit ihres Willens und ihres gesamten Charakters, eine Festigkeit, die durch moralische Erziehung hergestellt und durch das moralische Gewissen mit entsprechendem Druck abgesichert wird. Zu dieser Moral gehören Pünktlichkeit, Pflichtbewusstsein, Zuverlässigkeit, Teamgeist, Sorgfalt im Umgang mit den Arbeitsmitteln usw.

 Auch die Verträge, auf denen die Marktbeziehungen beruhen, müssen eingehalten werden. Wenn viele ihre Verträge nicht einhalten würden, wären die Gerichte völlig überlastet. Staatlicher Zwang reicht eben nicht aus, um die Vertragspartner zum Einhalten ihrer Abmachungen zu zwingen. Sie müssen  von sich aus – von sich aus -  aus eigenem Antrieb - die Regeln einhalten wollen. Kurz: Die kapitalistische Marktwirtschaft könnte nicht funktionieren ohne Moral. Sie bedarf der Moral wie ein Getriebe das Öl braucht.

 

2.  These:  Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind
                genauso unmoralisch wie die Moral 
                der Menschen widersprüchlich ist!

 Unter dem Inhalt der Moral sollen zunächst nur die gängigen Vorstellungen verstanden werden, die unser Handeln heute  bestimmen sollen, also nicht das, was man unter Vernunftmoral versteht.

 In dieser Gesellschaft gibt es zwei große Gruppen von Menschen: die einen leben von dem Verkauf ihrer Arbeitskraft, sie sind Lohnabhängige. Die anderen leben von ihrem Vermögen, den Dividenden, Zinsen oder Mieteinnahmen, die sie aus ihrem Eigentum erhalten. Die einen produzieren einen Mehrwert, den sich die Vermögenden kostenlos aneignen. Die Lohnabhängigen, das sind ca. 90 % der Bevölkerung, schaffen also ökonomische Werte, die ca. 10% der Bevölkerung umsonst einstecken können. Die einen werden also ausgebeutet und die anderen sind Enteigner.

 Der Anarchist Pierre Proudhon hat im 19. Jahrhundert gesagt: Eigentum ist Diebstahl. Das ist nicht ganz genau. Es müsste genauer heißen: Kapitaleigentum ist Diebstahl. Wir haben also heute eine Situation, in der die Moral der Lohnabhängigen den Diebstahl der Vermögenden erlaubt. Bedenkt man, dass die Kapitaleigner immer reicher werden, während die Lohnabhängigen bestenfalls ein paar mehr Konsumgüter ergattern können, dann wächst auch die Macht der Kapitaleigner über die Nichtbesitzenden. Man kann es auch so ausdrücken: Die herrschende Moral, wie z.B. du sollst nicht stehlen, sichert eine Eigentumsgesellschaft ab, die den Diebstahl von Mehrwert systematisch erlaubt.

 Da die Lohnabhängigen diese Art Moral wenigstens z.T. verinnerlichen müssen, wollen sie eine Arbeit finden, entsteht in ihnen ein Widerspruch zwischen ihren objektiven Interessen, nicht ausgebeutet zu werden, und der verinnerlichten Herrschaftsmoral.

Verinnerlichen die Menschen die herrschenden Moralvorstellungen umstandslos, dann werden diese in ihnen zu inneren Feinden.

 

3.  These:   Die herrschende Moral ist die ideelle
                Existenzbedingung der Herrschenden!

 Stellen Sie sich vor: Das Gebot, du sollst nicht stehlen, gälte nicht mehr. Jeder könnte dem anderen wegnehmen, was er wollte. Da es aber bei der großen Mehrheit nicht viel zu holen gibt, wer klaut schon eine Zahnbürste oder einen Kleinwagen, müssten vor allem die Vermögenden um ihr Eigentum fürchten. Was sich wirklich lohnt zu enteignen, ist nicht die teure Stereoanlage, sondern das Aktiendepot, nicht der teure Mercedes, sondern die Eigentumstitel über Ländereien, Fabrikhallen, Maschinen und selbstverständlich das Bankkonto.

 So lässt Brecht seiner Figur Mackie Messer sagen:

 Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie.

Was der Raub einer Bank gegen die Gründung einer Bank.

 Wenn also das Gebot, du sollst nicht stehlen, nicht gälte, hätten die Vermögenden viel mehr zu fürchten als etwa Menschen vom Serviceingenieur bis zum Obdachlosen.

 Was über das Diebstahlsverbot gesagt wurde, gilt für die ganze bürgerliche Moral: Ohne Moral kann die gegenwärtige Eigentumsgesellschaft mit ihren Klassenunterschieden nicht existieren. Die moralischen Gebote  und Verbote sind also Sollensvorschriften der Klassenherrschaft. Ihre moralischen Regeln sind die ideelle Existenzbedingung der herrschenden Klasse, wie Karl Marx sagt.

 Andererseits fällt es der vermögenden Klasse, die von ihrem Kapital lebt, viel leichter, ihre Moral – ihre ideelle Existenzbedingung - auch einzuhalten – jedenfalls, wenn man von deren Widersprüchen absieht und unter normalen Umständen, nicht wenn sie mal wieder einen Faschismus zu Hilfe holen muss. Entgegen dem Schein, den die bürgerlichen Massenmedien verbreiten, halten sich die oberen Zehntausend eher an ihre Moral als die unteren Klassen. Das zeigt cum grano salis auch die Kriminalstatistik.

 Da die Massenmedien sich aber auf jeden Skandal bei Prominenten  stürzen, entsteht der Eindruck, als ob Kriminalität und Unmoral in der herrschenden Klasse weit verbreitet wären. Fernsehserien wie „Dallas“ oder „Colombo“ suggerieren ebenfalls, dass Kriminalität bei den Vermögenden angesiedelt wäre. Der moralische Spießer, der die Welt nur aus seinem Fernsehsessel wahrnimmt, kann sich dann an die Brust klopfen und sich als moralischer Mensch fühlen. Tatsächlich aber haben die Vermögenden es gar nicht nötig, gegen ihre Moral zu verstoßen. Für die armen Leute aber gilt immer noch der Satz: Not kennt kein Gebot. Das wiederum nutzen Politiker aus, um gegen sogenannte „Sozialschmarotzer“ vorzugehen, damit sie von ihrem Auftrag ablenken können, den großen Diebstahl am Mehrwert abzusichern.

  

4.  These:  Die Erfindung der Moral sollte in der
                antiken Gesellschaft Gewalt vermindern!

 In der Steinzeit gab es keine Moral. Die Menschen hatten ihre teils unbewusste Sitte, die das Zusammenleben der Horde gewährleistete. Moral als bewusstes Regelwerk oder als formulierte Sollensvorschrift, die dem tatsächlichen Verhalten zumindest teilweise entgegenstand, wurde erst mit der sozialen Teilung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte erfunden. Moral ist also noch sehr jung in der Menschheitsgeschichte, etwa 3000 Jahre alt. Erste Ansätze zu einer solchen Moral gibt es im alten Ägypten als Moral der Spruchweisheit, dann in Altisrael. Die Sprüche Salomons sind ein Beleg dafür. Diese ersten Formen der Moral richten sich in erster Linie an die Beamten, damit diese zuverlässig die Befehle des Königs ausführen.

 Erst ansatzweise im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung durch die Zehn Gebote wird die Moral systematisiert und verallgemeinert. Aber erst im antiken Griechenland wird sie zu einem Regelwerk, das alle Lebensbereiche umfasst, das auch den Anspruch hat, allgemein gültig begründet und deshalb für alle verbindlich zu sein.

 Der große Vorteil der Moral für das Kollektiv der Herrschenden, d.h. derjenigen, die vom Mehrprodukt der abhängigen Bevölkerung leben, liegt auf der Hand. Die Herrschenden brauchen nicht jede ihrer Maßnahmen mit Gewalt durchzusetzen. Sie können von dem verinnerlichten Zwang bei ihren Untertanen ausgehen, die bestehende Ordnung zu akzeptieren. Die Moral ist dieser verinnerlichte Zwang.

 Eine solche Moral wird aber von der abhängigen Bevölkerung vom Bauer, Handwerker bis zum Sklaven nur verinnerlicht, wenn sie eine gewisse Plausibilität hat, allgemein gilt. Das zwingt auch die Herrschenden dazu, sich an ihre Moral zu halten, um das gleiche von ihren Untertanen fordern zu können. Letztlich aber ändert diese Selbstzähmung des Kollektivs der Herrschenden nichts an dem Zweck der Moral: Sie soll das Herrschaftsverhältnis stabilisieren und den offenen oder verdeckten Bürgerkrieg in der Polis verhindern.

 Immerhin hatte eine solche Moral tatsächlich eine gewisse Plausibilität, insofern es zu der Herrschaft von Menschen über Menschen keine Alternative gab. Dies galt bis zum 18. Jahrhundert. Mit der Entwicklung der Produktivkräfte seit der kapitalistischen Industrialisierung im 19. Jahrhundert wird aber Herrschaft immer überflüssiger. Konnte man sie früher als notwendig ansehen für den Fortschritt der Kultur, so ist heute auch kultureller Fortschritt ohne Herrschaft und Ausbeutung der Lohnabhängigen möglich.

 Ja, die herrschaftlich verfasste Gesellschaft, die von dem automatischen Subjekt, genannt Kapital, regiert wird, hat es so weit gebracht, dass sich die Menschheit auf Grund dieses blinden aggressiven Mechanismus selbst zu vernichten droht. Man denke nur an die Atomwaffenarsenale, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges kaum verringert haben.

 War also die Moral einst ein Mittel, Gewalt in der herrschaftlich verfassten Gesellschaft abzubauen, so ist heute die bürgerliche Moral des Mitmachens ein Sargnagel der Menschheit.

  

5.  These:   Es gilt der Satz: 
               “Moralisieren ist unmoralisch”!

 Die Kritik am Kapitalismus ist bekannt. Seit 150 Jahren kann jeder die Marxsche Kapitalanalyse lesen oder sich einfach über die leichenträchtige Dynamik der kapitalistischen Wirtschaftsweise im Geschichtsbuch kundig machen. Wer über den Faschismus redet und nicht den Kapitalismus thematisiert, hat nichts begriffen.

 Damit die Menschen nichts über ihre Gesellschaft begreifen, hat sich eine ganze Bewusstseinsindustrie gebildet. Die Macher dieser Industrie, die prokapitalistischen Ingenieure der Seele, verordnen den Menschen, neben aller sinnlich bunten Ablenkung, die Vernebelung durch das Moralisieren. Nichts wird gesendet, was nicht zugleich moralisch bewertet oder der moralischen Bewertung durch die Zuschauer anheim gestellt wird.

 Diese Art des Moralisierens ist selbst unmoralisch, wie schon Nietzsche erkannt hat. Denn wenn ich eine Sache sofort moralisch bewerte, dann frage ich nicht mehr nach den Ursachen und Bedingungen, ja, dann brauche ich mir überhaupt keine Sachkenntnis anzueignen. Das Urteil steht immer schon fest. Ich schaue aus der Perspektive eingebildeter idealer Werte auf meine Welt.

 Alles und jedes wird der moralischen Bewertung unterworfen, alles und jedes wird nicht mehr durch seine Gründe erkannt. Moral ist dann keine ideell ausgedrückte Existenzbedingung der herrschenden Klasse mehr, sondern ein Mittel der Propaganda und der Verdummung. Die Menschen, die immer auch wissen wollen, warum etwas geschieht, warum diese Maßnahme, dieser Krieg notwendig sind, werden mit „moralischen Werten“ abgespeist, anstatt mit den wirklichen Gründen.  

Die deutsche Regierung hat Jugoslawien bombardieren lassen, um die Menschenrechte zu schützen. Der US-Präsident überfällt den Irak, um den Terror zu bekämpfen. Der französische Präsident droht mit Atomwaffen, um den Frieden zu sichern. Diese Moralisierei soll verdecken, dass es allein um Rohstoffquellen, Absatzmärkte, Kapitalanlagen, also um die Sicherung der Geschäftsbedingungen des Kapitals geht, also um die klassische imperialistische Funktion des Staates. Die aber ist unmoralisch, weil sie die anderen zum bloßen Mittel der Geschäftsinteressen macht.

 Ähnliches gilt für die Ausbeutung in der Gesellschaft, die durch Moralisieren verdeckt wird. Bereits unter dem Wort Ausbeutung stellt sich heute der durchschnittliche Sterbliche einen Peitsche schwingenden Aufseher vor, der auf den elenden Sklaven eindrischt. Dabei ist die kapitalistische Ausbeutung mit ethischem Management und moralischer Sinnstiftung weit effektiver als die frühere mit der Peitsche. Das liegt allerdings nicht nur an dem verfeinerten moralischen Fusel, sondern an den entwickelten Produktivkräften, die auch viel empfindlicher gegen Störungen sind, also ein subtileres moralisches Gewissen benötigen, als es etwa in der Antike die Erinnyen verkörperten.

 Moralisieren verschleiert also die Unmoral der gesellschaftlichen Verhältnisse.  

 6.  These:  “Erst kommt das Fressen, dann die Moral”
                – die plebejische Kritik an der bürgerlichen
                Moral!

 Gegen das Moralisieren und gegen einen moralischen Idealismus, der die Wirklichkeit verklärt, hat sich eine ganze Literatur engagiert. Sie nimmt eine plebejische Perspektive ein. Brechts „Dreigroschenoper“, aus dem dieser Satz, „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“, stammt, ist nur ein Beispiel. Dieser Satz möchte provozieren. Er sagt: Schafft uns menschliche Bedingungen, dann können wir uns auch menschlich verhalten. Wer satt ist, braucht keine Lebensmittel stehlen.

 Und Georg Büchner lässt seine Figur Woyzeck sagen: „Sehn Sie, wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein’ Hut und eine Uhr und einen feinen Anzug und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muss was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.“

 Zu was ein idealistischer Moralstandpunkt führt, der nicht mehr auf die Bedingungen des Handelns achtet, hat Brecht in seiner „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“ gezeigt. Johanna als Mitglied der Heilsarmee hat Mitleid mit dem Elend der Arbeiter auf den Schlachthöfen von Chicago. Als sie von einem Streik hört, der blutig enden könnte, will sie vermitteln zwischen den Bossen und den streikbereiten Arbeitern. Indem sie aber mit den Bossen redet, verrät sie die Absichten der Arbeiter. Die Bosse inszenieren einen Hinterhalt und töten einige Arbeiter. Auch Johanna kommt dabei um. Als Sterbende kritisiert sie ihre idealistischen Ansichten: „Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, und / Es helfen nur Menschen, wo Menschen sind.“ Ihr Tod wird anschließend von den Bossen als Märtyrertum einer Mildtätigen propagandistisch missbraucht.

 Überhaupt lässt sich Brechts Werk als Moralkritik im Namen einer Gegenmoral lesen. In „Der gute Mensch von Sezuan“ demonstriert er systematisch, dass man in der kapitalistischen Gesellschaft nicht moralisch sein kann, ohne untergebuttert zu werden, ohne seinen Unterhalt zu verlieren, ohne zu Grunde zu gehen.

 Aber um sich gegen die Verhältnisse zu wehren, braucht man selbst Moral, wenn auch eine andere:

 „Oh, ihr Unglücklichen!

Eurem Bruder wird Gewalt angetan, und ihr kneift die Augen zu!

(...)

Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muß ein Aufruhr sein

Und wo kein Aufruhr ist, da ist es besser, daß die Stadt untergeht

Durch ein Feuer, bevor es Nacht wird!“

 Die positive Bestimmung zu dieser negativen Provokation des plebejischen Bewusstseins heißt bei Brecht: Freundlichkeit, das ist eine  praktische Tätigkeit für andere, das ist Solidarität:

 „Es gibt noch freundliche Menschen, trotz des großen Elends. (...) Besonders die wenig zu essen haben, geben gern ab. Wahrscheinlich zeigen die Menschen einfach gern, was sie können, und womit konnten sie es besser zeigen, als indem sie freundlich sind? Bosheit ist bloß eine Art Ungeschicklichkeit. Wenn jemand ein Lied singt oder eine Maschine baut oder Reis pflanzt, das ist eigentlich Freundlichkeit.“

II. Teil      Die Moral des Widerstandes

 7.  These:   Moral ist der innere Feind der
                 Lohnabhängigen, aber als Solidarität
                 zugleich auch das einzige Mittel gegen 
                 die Herrschaft des Kapitals!

 Die Arbeitsmoral und die herrschenden Vorstellungen über Moral hatten sich schon als innerer Feind der Menschen gezeigt, ohne dass sie davon lassen können. So in der 2. These. Wenn sich die Lohnabhängigen aber wehren wollen gegen das Kapital, das über sie ökonomisch herrscht, dann können sie diesem nur ihre Zahl, ihre Masse entgegensetzen. Wenn sie z.B. höhere Löhne fordern, dann können sie dies nur, wenn sie zusammenhalten. Der Einzelne ist machtlos. Der Zusammenhalt einer Belegschaft, der Arbeitenden einer Branche, der Lohnabhängigen des gesamten Landes aber ist Solidarität.

 Ich setze mich gemeinsam mit meinen Kollegen füreinander ein, ich gebe diesem Kollektiv freiwillig mehr, als ich zurückerhalten kann. Das ist Solidarität – ein eminent wichtiger moralischer Begriff. Als Vorstellung ist er eine moralische Idee, zur Gewohnheit geworden ist Solidarität eine Tugend. Solidarität unterscheidet sich von bloßer Disziplin durch die Freiwilligkeit, sie einzugehen. Sie stützt sich auf das Interesse im Kapitalismus überleben zu können. Gäbe es keine Solidarität, dann hätten wir in Westeuropa immer noch einen Sechzehnstundentag, Kinderarbeit und das materielle Elend des Frühkapitalismus. Gibt es keine Solidarität mehr, dann fallen wir in solche Zustände zurück.

 Angesichts der aggressiven Dynamik des kapitalistischen Systems, das die Existenz der Menschheit bedroht, kann aber Solidarität nicht nur auf die Interessen im Kapitalismus beschränkt sein. Wollen wir überleben, dann muss sich Solidarität auch durch das Interesse an der Abschaffung des Kapitalismus begründen. Dieses Interesse ist dann nicht mehr partikular wie der einzelne Arbeitskampf, bei dem eine übergroße Mehrheit gegen die vermögende Minderheit der Eigentümer kämpft. Das Interesse an der Abschaffung des Kapitalismus ist ein allgemeines Interesse und deshalb ein Vernunftinteresse der Menschheit.

 Die Lohnabhängigen, oder allgemein: die Subjekte der Veränderung, müssen also in sich unterscheiden zwischen einerseits der Arbeitsmoral, die ihnen anerzogen wurde, die zur Qualifikation ihrer Arbeitskraft gehört, von der sie also nicht lassen können, sowie den moralischen Ideologien, die sie von Kindheit an gelernt haben  durch die Schule, die Massenmedien und evtl. auch die  Familie.

Und andererseits müssen sie die Solidarität, die sie zum Widerstand brauchen, die sie zum wirtschaftlichen und politischen Überleben benötigen, in sich einüben.

 Ohne diesen moralischen Spagat, den sie machen müssen, ist eine Veränderung der Verhältnisse nicht zu haben.

  

8.  These:  Die sozialistische Bewegung ist von
                Konfusionen über die Moral geprägt!

 Die Ansichten über Moral reichen in der sozialistischen Bewegung - seit dem 19. Jahrhundert bis heute - von einer abstrakten Ablehnung von Moral über eine Umdeutung des bürgerlichen Utilitarismus in einen sozialistischen bis hin zur Idealisierung der Moral.

 Den extremsten ethischen Nihilismus vertreten heute die Leute vom „Gegenstandpunkt“. Sie argumentieren: Da Moral heute hauptsächlich als Propaganda für das Bestehende vorkommt, als verinnerlichte Moral die Herrschaftsverhältnisse zum Gewissen überhöht, als Moralisieren die wahren Gründe und Motive des Staates und seiner Ökonomie verschleiert und als Werteidealismus das Bewusstsein vernebelt, da dies so ist, lehnen sie Moral in Bausch und Bogen ab.

So kritisch dieser ethische Nihilismus daher kommt, so widersprüchlich ist er auch. Eine radikale Kritik am Kapitalismus ist selbst schon eine moralische Tat, denn wenn ich gegen meine Interessen im Kapitalismus handle, um mein Interesse an der Abschaffung des Kapitalismus durchzusetzen, dann entspricht das nicht nur formal einer eminent moralischen Anstrengung, sondern ist auch inhaltlich die Befolgung des Marxschen moralischen Imperativs: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.

 Jeder, der für die Veränderung der Verhältnisse eintritt, handelt eminent moralisch.

 Der Nachteil einer mangelnden ethischen Reflexion ist der, dass die ethischen Nihilisten auch für ihr eigenes Handeln keinen Maßstab haben oder zumindest diesen nicht offen äußern. In der Sowjetunion hat das dazu geführt, dass alle Scheußlichkeiten der Feudal- und Klassengesellschaft auch zum Mittel der kommunistischen Partei wurden. Da das Moralbewusstsein wie die gesamte Theorie für die unmittelbaren Kampagnen instrumentalisiert wurden, hatten sie keine autonome Instanz, sich ihrer Fehler bewusst zu werden. Das Opfer des Intellekts wurde letztlich zum Menschenopfer.

 Ich verstehe unter Moral die Regel, keinen Menschen bloß als Mittel, sondern jeden Menschen immer auch als Zweck an sich selbst zu behandeln. Danach ist jeder Verstoß gegen die Moral eine Schädigung anderer Menschen. Eine solche Schädigung mag gerechtfertigt sein oder nicht, man muss sie auf jeden Fall beachten, wenn man handelt. Insofern kann man nicht ohne Moral auskommen, ob man will oder nicht.

 Die Leninisten und Trotzkisten vertreten einen kommunistischen Utilitarismus. Danach ist alles gut, was der eigenen Klasse nützt, und alles schlecht, was ihr schadet. Gut ist immer das, was zum Kommunismus führt. Darin unterscheidet sich der kommunistische Utilitarismus vom bürgerlichen.

 Der bürgerliche Utilitarismus ist im Grunde nur eine Ideologie, weil das, was sich in dem vorausgesetzten Interessenkampf durchsetzt, nicht das größte Glück der größten Zahl ist, wie er anstrebt, sondern die Zwänge der Kapitalproduktion. Bürgerlicher Utilitarismus ist dann der Schein, als ob Menschen diese Zwänge für ihr Glück beherrschen könnten.

 Im Utilitarismus Lenins und Trotzkis ist solch ein Kapitalautomatismus nicht impliziert, denn Utilitarismus ist gegen diesen Automatismus konzipiert:

 Wer bestimmt hier das Glück der Klasse, ihre Kampfformen und Aktionen?

 Faktisch entschied in der autoritären Struktur dieser Richtung die Parteiführung, die, wenn es darauf ankam, auch auf ihre Klassengenossen schießen ließ. Der kommunistische Utilitarismus hat zwar eine Moral, aber diese hat keine festen Prinzipien und  entwickelte sich deshalb zu einem Mittel der Parteiführung, ihre Anhänger zu manipulieren.

 Das andere Extrem in der sozialistischen Bewegung vertrat der Reformismus. Er war vor allem angesiedelt in der Sozialdemokratie, als sie noch nicht zur prokapitalistischen Partei mutiert war. Hier werden die Ideale von Kant und Fichte hochgehalten und zu „moralischen Werten“ verklärt.

 Dieser ethische Sozialismus hat aber wenig mit der tatsächlichen Politik, dem schmutzigen Geschäft des politischen Klassenkampfes zu tun, von dem er wohlweislich abstrahiert. So werden die hohen Werte für die Sonntagsreden reserviert. Man kann sich als etwas Besseres fühlen und ansonsten so handeln, wie es die Verhältnisse erfordern. Letztlich verkommt der ethische Sozialismus zur moralischen Heuchelei.

 

9.  These:  Wenn eine autonome Moral notwendig ist,
                dann muss sie bei Kant anknüpfen!

Alles bisher Gesagte geht von einer Perspektive aus, die jenseits der kapitalistischen Gesellschaft liegt. Eine solche Perspektive muss vernünftig sein, wenn sie von den Menschen kraft ihres Denkvermögens eingesehen werden soll. Vernünftig ist eine solche Perspektive nur, indem sie den Blick auf das Ganze der bestehenden Welt richtet, das heißt auf ihre widersprüchliche Gesetzmäßigkeit, die in ihr wirkt. Sie kann nicht die Ökonomie von der Lebenswelt trennen, wie es bei einigen Philosophen, die als kritisch gelten, der Fall ist. Und diese Perspektive auf das Ganze muss eine prinzipielle Alternative zu dieser Welt ins Auge fassen, die vor dem Richterstuhl der Vernunft bestehen kann.

 Damit die Menschen zur Tat schreiten, die kapitalistische Gesellschaft in eine sozialistische transformieren, müssen notwendigerweise zwei Bedingungen erfüllt sein:

 Erstens muss die sozialistische Möglichkeit real sein. Dass sie real möglich ist, das hat der Kapitalismus selbst hervorgebracht, indem er die Produktivkräfte bis zur Automation gesteigert hat.  

Zweitens müssen als subjektive Bedingung den Menschen  antizipierte Prinzipien deutlich sein, die für eine zukünftige Gesellschaft gelten sollen und die einen qualitativen Unterschied zum Bestehenden erkennen lassen.

 Ein Prinzip, soweit es die Moral betrifft, ist in der klassischen bürgerlichen Philosophie formuliert worden und wurde auch zum expliziten und  impliziten Maßstab der Marxschen Kritik am Kapitalismus, nämlich die bereits erwähnte Bestimmung des Menschen als Zweck an sich selbst.

 Der Denker Kant hatte die Hoffnung, dass die entstehende bürgerliche Gesellschaft alle Menschen als gleichrangig in ihrem Menschsein anerkennen würde. Der Mensch würde dann niemals als bloßes Mittel der Mächtigen existieren, nach dem Motto: „Kerls, wollt ihr ewig leben?“ Sondern jeder Mensch sollte immer auch als Zweck an sich selbst anerkannt und behandelt werden.

 Allein ein solches oberstes Moralprinzip kann vor der Vernunft bestehen, ist also allgemein gültig – in einer nichtantagonistischen Gesellschaft. Denn einem solchen Gesetz kann dann jeder zustimmen und sich auch in seinem Handeln unterordnen. Dieses Moralgesetz ist das Grundprinzip einer autonomen Moral, einer Moral also, die sich jeder kraft seines Denkvermögens selbst geben kann, ohne einen Gott, die Natur oder partikulare Interessen zu bemühen.

 Statt einer Gesellschaft, in der jeder als Zweck an sich selbst anerkannt wird, entstand aus dem Untergang der Ständegesellschaft eine Klassengesellschaft. Die Menschen in ihrer großen Mehrheit als Lohnabhängige und Arbeitskräfte wurden zu bloßen Mitteln der Kapitalverwertung. Die Dynamik dieser Ökonomie stürzte Teile der Bevölkerung ständig ins Elend, überzog die Welt mit Kriegen und vernichtete Millionen Menschen durch Massenmord in den Konzentrationslagern oder auf den Kriegsschauplätzen.

 Nichtsdestotrotz ist dieses Moralprinzip nicht falsch. Man kann ein Moralgesetz nicht dafür verantwortlich machen, dass es sich auf Grund der Bedingungen nicht durchgesetzt hat. Im Gegenteil, es ist ja gerade begründet worden, weil die Menschen noch nicht vernünftig miteinander umgehen. Was sich allein herausgestellt hat, ist die Tatsache, dass die bestehenden Verhältnisse diesem Moralgesetz widersprechen. Das Moralgesetz wird zur Aufforderung, die gesellschaftlichen Verhältnisse und ihre Ökonomie zu verändern.

 Da nur das Moralgesetz einen allgemeinen Frieden unter den Menschen stiften kann, ist es eine unabgegoltene Utopie, seine Realisierung ein durchzusetzendes Ziel. Seine Bedingungen, damit es wirken kann, müssen allererst geschaffen werden. Das Moralgesetz  wird dann zum qualitativen Maßstab für die Differenz zwischen Herrschaft und gesellschaftlicher Freiheit.

 Etwas wirklich Neues kann nur entstehen, wenn dieses Neue dem Moralgesetz untersteht und seine Verwirklichung zur Selbstverständlichkeit wird. Das Moralgesetz wird dann zum Gesetz der Freiheit. Dies ist die notwendige ideelle Bedingung einer sozialistischen Gesellschaft, die diesen Namen verdient. Ohne diese Bedingung würde die „alte Scheiße“ - wie Marx sagt - nur wieder vorn beginnen, wie dann auch der „Stalinismus“ in der Sowjetunion gezeigt hat.

 In einer sozialistischen Gesellschaft mit Moralgesetz gelten dann die Worte von Marx und Engels aus dem „Kommunistischen Manifest“: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“  Das heißt, in dieser Assoziation sind alle mit ihren legitimen Zwecken anerkannt, sie fungieren als Selbstzweck.

  

10. These: Die einzig vernünftige Moral ist heute
                eine des Widerstandes!

 Was bedeutet eine sozialistische Perspektive mit Moralgesetz für die Gegenwart? Zunächst einmal ist das Handeln, das sich an der autonomen Moral orientiert, auf die Veränderung der Gesellschaft gerichtet. Jedoch das Handeln in dieser Gesellschaft  kann das Moralgesetz nicht einfach anwenden, weil es die antagonistischen Verhältnisse nicht zulassen. Seine massenhafte Realisierung ist nur ein zu erkämpfendes Fernziel.

 Da jeder leben muss, d.h. in der Regel seine Arbeitskraft verkaufen muss, festigt er täglich die Verhältnisse, die ihn ausbeuten, abhängig machen, fremdbestimmen und im Extremfall sogar töten. Will man sein Bewusstsein nicht durch die Rechtfertigung der eigenen Schädigung zerstören, will man sein autonomes Denken und seine Moraleinsicht nicht preisgeben und sich dadurch zu einem geistigen Sklaven zurückentwickeln, dann muss man auf die Veränderung der Gesellschaft drängen. Es gibt kein Drittes zwischen der Alternative geschlagener Amboss oder verändernder Hammer zu sein.

 Die Veränderung selbst kann aber nicht ohne die gegenwärtige Beachtung des Moralgesetzes sein, weil das Ziel schon in den Mitteln anwesend sein muss. Andererseits können die Veränderer jedoch nicht nach dem Moralgesetz handeln, weil die antagonistischen Verhältnisse dies nicht durchgehend zulassen. Das ist das moralische Dilemma revolutionärer Politik - wie jeden anderen Handelns auch.

 Wenn die herrschende Klasse z.B. einen faschistischen Putsch inszeniert, dann ist auch Gewalt ein legitimes Mittel dagegen, wenn es pragmatisch begründet ist. Aber wenn ich Gewalt anwende, dann muss ich mir bewusst sein, dass ich andere zum bloßen Mittel mache und letztlich auch mich selbst schädige durch die einsetzende Täter-Opfer-Dialektik.

 Der Zweck bestimmt die Mittel. Will ich eine humane Gesellschaft, dann kann ich nicht barbarische Mittel benutzen. Werden z.B. einer sozialistischen Bewegung kriegerische Mittel aufgezwungen, dann können diese Mittel bestenfalls die Ursache der Gewalt beseitigen, niemals aber zum Aufbau einer Alternative beitragen. Oder wie ein Göttinger Student es einmal formuliert hat: Der Weg zum Sozialismus kann nicht mit Leichen gepflastert werden.

 Die Art der Mittel bestimmt wiederum auch den Zweck. Den qualitativen Unterschied zur kapitalistischen Klassengesellschaft kann ich nur erreichen, indem in meinen Mitteln der Mensch als Selbstzweck immer auch anwesend ist. Das ist eigentlich gemeint, wenn vom „neuen Menschen“ gesprochen wurde.

 So muss jede verändernde Bewegung das Dilemma berücksichtigen, dass ihr unmoralische Mittel aufgezwungen werden, diese Mittel aber den angestrebten Zweck einer humanen Gesellschaft zerstören können. Sie muss, um dieses Dilemma zu mildern, den pragmatischen Imperativ des Widerstandes berücksichtigen, den ich in meinem Buch „Die Ethik des Widerstandes“ ausführlicher begründet habe. Dieser Imperativ des Widerstandes lautet: 

    Unmoralische Mittel sind nur erlaubt, wenn sie durch die Verhältnisse den Veränderern aufgezwungen werden.

    Ich setze so weit wie möglich Mittel ein, die dem Moralgesetz adäquat sind, ohne dadurch handlungsunfähig oder wirkungslos zu werden.

 Eine solche pragmatische Regel sollte heute die Grundlage einer Moral des Widerstandes sein. Wenn z.B. linke Gruppen sich gegenseitig darum prügeln, wer bei einer Demonstration mit seinen Losungen an der Spitze gehen kann, dann ist das moralisch unakzeptabel.

 Eine Kampfform nun, die wirkungsvoll ist und zugleich dem Moralgesetz entspricht, in dem also das dargestellte Dilemma fast nicht besteht, eine solche Form ist die massenhafte Solidarität der Lohnabhängigen.

 Diese massenhafte Solidarität für eine Veränderung der Gesellschaft zu erreichen, ist die verzweifelte Hoffnung derjenigen, die ihre Augen nicht vor der leichenträchtigen Ökonomie des Kapitals verschließen.